Wir schreiben das Jahr 2022. Die ganze Welt befindet sich in der Geißel des Corona-Virus, denkt über die Klimakatastrophe und entsprechende Zukunftskonzepte nach und versucht, den Rest dieses Jahrhunderts so glimpflich wie möglich zu gestalten. Die ganze Welt? Nein. Eine kleine Stadt im Süden Spaniens scheint glücklich und gesegnet im Jahre 1995 steckengeblieben zu sein. Marbella. Eine Schönheit an der Costa del Sol mit stolzer Tradition und atemberaubenden Klima, die Jahr für Jahr hunderttausende Touristen anlockt und seine Bewohner Tag für Tag verzaubert. Ich bin selbst so einer. Verliebt in diese kleine Stadt, die mit ihren Gegensätzen von Posh bis Patata frita, von Deluxe Beachclub bis Salsa-Cabana, mit Cafés, Theater und Ausstellungen einen Charme ausstrahlt, der seinesgleichen sucht.

Pferdekutschen statt Radwege

Und doch kommt man nicht umhin, sich zu fragen, wie lange das alles noch gut gehen kann. Sprechen wir heute mal nicht über die „Corona ist nur eine Grippe“-Taktik, die die aktuellen Inzidenzen in die Höhe treibt. Das ist kein marbellatypisches, sondern ein gesamtspanisches Problem. Nein, Marbella ist bei aller Schönheit auch die Stadt, die noch immer Pferde bei glühender Hitze Kutschen ziehen lässt, aber es andererseits absolut unmöglich macht, Ziele mit dem Fahrrad zu erreichen. Das Kleinod San Pedro de Alcántara mal ausgeklammert, das eine Oase für Familien und umweltbewußte Bürger darstellt. Der Rest Marbellas ist von einer Ignoranz gegenüber Radfahrern geprägt, die auf ihre Art schon wieder beeindruckt. Trotz zweispuriger Strasse quer durch die ganze Stadt und einer breiten Strandpromenade sollen Radfahrer gefälligst auf der Strasse oder noch besser der A7 langbrettern, was für sie, aber auch für alle beteiligten Autofahrer ein immenses Risiko darstellt. Ab und an findet man Radwege, zum Beispiel am Parque de la Represa, die dann aber nach bummeligen 2 Kilometern einfach abbrechen und sich in Gefälligkeit auflösen. Für Radfahrer ist das nicht zumutbar, wenn man dann noch ein Kind im Kindersitz transportieren will, wird es schnell lebensgefährlich. Von daher verzichtet man aufs Radfahren. Was man Marbella zu Gute halten muss: der öffentliche Nahverkehr ist für Residenten kostenfrei. Dennoch: was spricht dagegen, diese wunderschöne Stadt mit dem Fahrrad erkunden zu können?

Die Zielgruppe: reich und schön

Nun könnte man sagen: Radfahrer haben einfach keine Lobby. Zumindest nicht in der Zielgruppe, die Marbella anvisiert: die Reichen und Schönen. Gerade vor Kurzem wurden weitere Luxusbauten in der Golden Mile bewilligt, eine Entscheidung, die nicht nur auf Gegenliebe stößt, insbesondere bei den „Einheimischen“, die sich mehr und mehr übersehen fühlen. Doch die Marschrichtung ist klar: Marbella soll noch mehr das perfekte Ziel für Reiche und Schöne werden, die nunmal nicht auf dem Rücken eines Drahtesels zu finden sind.

Doch ist das wirklich so? Natürlich gibt es die wohlhabende Schicht, für die es sprichwörtlich kein Morgen gibt, die die Klimakatastrophe für Humbug halten und einfach Ihren Lebensabend genießen wollen. Das Problem einer alternden Zielgruppe und es tut mir leid, das so brutal sagen zu müssen: sie stirbt aus. Selbst wenn einem die Zukunft dieses Planeten recht egal ist, sollte man doch mal hinterfragen, welchen wirtschaftlichen Benefit eine Zielgruppe mit sich bringt, die nur noch eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht.

Alternativ gibt es dann den koksenden Neureichen, der mit 100 Sachen durch die Innenstadt jagt, weil sein Maserati so schön klingt und dem es dabei gänzlich egal ist, ob dabei ein Kleinkind unter die Räder kommt. Diese Zielgruppe stirbt nicht aus. Aber Marbella hat besseres verdient. Und dann gibt es noch die hervorragend ausgebildeten Schönen und Reichen, die durchaus darauf Wert legen, dass das Brot als Aperitif eben nicht automatisch mit Butter (dem Lebensmittel mit der verheerendsten Ökobilanz ever), sondern mit Olivenöl und Salz gereicht wird. Die kritisch hinterfragen, ob täglicher Fleisch- und Fischkonsum noch zeitgemäß ist und sich auch beim Avocado-Genuss zurückhalten. Wer das anzweifelt, muss einfach nur über den großen Teich blicken und schauen, wo sich diese Zielgruppe aktuell aufhält.

Kann die Costa del Sol mit dem Silicon Valley mithalten?

Diese Zielgruppe findet man unter Anderem im wunderschönen, warmen Kalifornien, das rein optisch einige Gemeinsamkeiten mit der Costa del Sol aufzuweisen hat. Málaga hat erst vor einigen Tagen angekündigt, die Gruppe der Digital Natives und Digitalnomaden noch weiter ansprechen und anziehen zu wollen. Betrachtet man Kalifornien nun genauer, fällt eins auf: hier lebt die Zielgruppe der Zukunft. Das Durchschnittsalter liegt bei 34,4 Jahren, im gesamten Gebiet werden mehr als 200 Sprachen gesprochen und das Silicon Valley gilt als Geburtsstätte revolutionärer Innovationen. Politisch sind die Demokraten hier fest verwurzelt und das Rauchen war bereits verpönt, als die Tabakindustrie den Rest des Landes noch fest im Griff hatte. Kurzum: Kalifornien blickt in die Zukunft. Wohin aber blickt Marbella?

Nur eine Stunde Fahrt entfernt, in Tarifa, kann man sehen, wie sich eine Ortschaft auf diese junge und zukunftsorientierte Zielgruppe eingeschossen hat. Hier ist es absolut selbstverständlich, dass Essen auch in vegetarischer oder veganer Variante zur Verfügung steht. Die Gastronomie und Hotellerie ist im Jahre 2022 angekommen. Das Radfahren ist hier auch nicht höchste Priorität, was aber eher am Wind liegt, der jeden Radfahrer aus dem Sattel holen würde. Aber doch weht in dieser Kleinstadt ein frischer Wind, der eben diese Jungen anspricht und anlockt. Eine Brise davon würde Marbella gut zu Gesicht stehen. Foto: Astrid Kramer